Die Senioren von heute sind nicht mehr die alten
„Der auf dem Dorf beliebte Spruch: ‚Das war schon immer so‘ zählt nicht mehr. Vieles wird anders und darauf müssen wir uns einstellen“, machte Franz Müntefering, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) gleich zu Beginn seiner Rede deutlich. Die BAGSO ist ein bundesweiter Dachverband der Seniorenarbeit mit mehr als 100 Verbänden. Der Verband zählt viele Millionen ältere Menschen zu seinen Mitgliedern. Im voll besetzten Großen Hörsaal der Katholischen Landvolkshochschule Hardehausen (LVH) referierte Müntefering zum Thema „Seniorenarbeit neu denken“. Eingeladen hatte ihn Bernhard Eder, Projektreferent für Seniorenarbeit an der Landvolkshochschule.
„Es gilt, den Wandel zu gestalten“, brachte es der 79-jährige Gastredner auf den Punkt. Veränderungen gebe es allein durch eine sich wandelnde Altersstruktur. Während es 1964 noch 1,4 Mio. Geburten in Deutschland gab (Osten und Westen zusammengefasst), liegt die Zahl heute bei etwa 700 000 Neugeborenen pro Jahr. Hinzu komme, dass Menschen länger leben, als sie je gelebt haben. „Heute gibt es rund 5 Mio. 80-Jährige“, so Müntefering. Die Prognose für 2045: 10 Mio. 80-Jährige. Auch die Zahl der über 100-Jährigen werde stark steigen. „Bei dieser Entwicklung geht es darum, die individuellen Interessen der Generationen zu benennen“, positionierte sich der ehemalige SPD-Bundesvorsitzende.
Das ist eine Herausforderung. Denn die Zahl der Einfamilienhaushalte in Deutschland steigt – und damit auch die Zahl an Personen, die vereinsamen. „Das ist eine Konsequenz aus den sich ändernden Familiengrößen“, erläuterte Müntefering. „Früher lebten häufig mehrere Generationen unter einem Dach“, schilderte der Politiker aus eigener Erfahrung. Und ergänzte schmunzelnd: „Das war auch nicht immer nur schön.“ Heute gehen die Kinder zum Studieren oder zum Karriere machen aus dem Haus. Wenn der Partner stirbt, sitzen viele alleine da. Schlimm wird es, wenn die Senioren keinen Spaß mehr am Leben haben. Wenn niemand vorbeikommt und sich daraufhin die Einstellung festigt: „Wozu soll ich mich hübsch machen, es kommt doch eh keiner.“
Müntefering engagiert sich in seinem Ruhestand bei der BAGSO. Oder anders gesagt: Er ist Lobbyist für ältere Menschen in Deutschland. Und genau deshalb hat sich der ehemalige Politiker gemeinsam mit der BAGSO die Frage gestellt, was man tun kann, um älteren Menschen wieder Sinn im Leben zu geben. „Sie kennen alle das Dienstleistungsunternehmen ‚Essen auf Rädern‘“, brachte er als Beispiel an. Ältere Mensch müssen nicht mehr selbst einkaufen und kochen – sie bekommen ihr Essen ganz einfach bis vor die Tür gebracht. An sich ein guter Ansatz. „Damit wird das Problem der Einsamkeit aber nicht gelöst, sondern vielmehr gefördert“, war Müntefering überzeugt. Er entwickelte gemeinsam mit der BAGSO das Projekt „Auf Rädern zum Essen“. „Zusammen essen und miteinander ins Gespräch kommen ist eines der größten Kulturgüter, das wir haben“, so Müntefering. Für ihn ist klar: „Menschen brauchen im Älterwerden soziale Kontakte.“ Die Gruppe, die sich ursprünglich einmal im Monat zum Essen verabreden sollte, organisiert jetzt eigenständig regelmäßigere Treffen.
Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, älteren Menschen Hilfestellungen zu geben, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. „Jede Gemeinde muss sich die Frage stellen, wo es Einpersonenhaushalte in ihrem Bezirk gibt und gezielte Angebote für diese Menschen schaffen“, appellierte Müntefering. Er forderte dazu auf, Begegnungsorte für ältere Menschen zu gestalten. Die Senioren hingegen müssen Eigenverantwortung übernehmen und sich bewusst werden, was sie für sich selbst tun können. „Bewegung, Bewegung, Bewegung“, sei der Schlüssel zum Glück im Alter. Das schütze auch vor Stürzen und gebe Selbstsicherheit. „Am besten ist eine Tanzgruppe“, so Müntefering.
Kritisch betrachtete er die derzeitige Pflegesituation in Deutschland. „Der Pflegeberuf ist hoch angesehen, aber schlecht bezahlt“, brachte es der Politiker im Ruhestand auf den Punkt. Für ihn steht fest, dass in der Pflege beschäftigte Personen mehr Geld verdienen müssen. Zusätzlich sieht Müntefering die Pflegekräfte selbst in der Pflicht, ihre Interessen gemeinschaftlich besser zu vertreten. Nur 8 % der Pflegekräfte sind gewerkschaftlich organisiert.